Meike von Levetzow ist seit 2004 in unserer Kanzlei tätig, seit 2008 Equity Partner. Aus eigener Erfahrung berichtet sie, wie der Spagat zwischen Karriere uns Familie durchaus möglich ist.
Partnerin in Teilzeit in einer Großkanzlei – seit Jahren wird diskutiert, ob das überhaupt möglich ist. Die Antwort ist mittlerweile klar: Ja, es ist möglich und es funktioniert. Bei Noerr gibt es seit Januar 2018 zwei neue Equity Partnerinnen in Teilzeit, als eine davon verantworte ich im Fachbereich Litigation in Berlin nationale wie internationale komplexe Gerichts- und Schiedsverfahren. Insgesamt sind bei Noerr 4 Equity Partner/innen und 99 Berater/innen in Teilzeit tätig. Die Gründe für Teilzeit sind vielfältig: Während einige Kolleginnen und Kollegen wie ich an manchen Nachmittagen ihre Kinder betreuen, arbeiten andere an wissenschaftlichen Veröffentlichungen oder haben eine Lehrtätigkeit an einer Universität. In Einzelfällen können auch andere berufliche oder private Projekte dahinterstehen, wie zum Beispiel bei einem Anwalt, der nebenbei größere private Immobilien- und Bauprojekte betreut. Bei Noerr suchen wir in allen Fällen individuelle Lösungen, die möglichst allen Belangen gerecht werden.
Aber, fragt man sich vielleicht weiter, muss ein Anwalt, zumal ein Partner einer Großkanzlei, der Mandate verantwortlich führt, als Selbständige/r nicht „selbst“ und „ständig“ arbeiten? Die Antwort darauf ist: Nein, denn auch ein Partner in Vollzeit kann in der Zeit, in der er mit Mandant A vor Gericht verhandelt oder beim Notar einen Unternehmenskaufvertrag beurkundet, nicht gleichzeitig für Mandant B ansprechbar sein. Zudem ist ein Anwalt, der sich mit einem der eingangs beschriebenen Projekte (Familie oder wissenschaftliche Tätigkeit) befasst, währenddessen zumeist jedenfalls telefonisch erreichbar und kann nächste Schritte anstoßen. Ausgleich schaffen in beiden Fällen das Team und der technische Fortschritt. Kanzleihandy und Notebook erlauben es auch mal nicht im Büro zu sein und trotzdem agieren zu können.
Natürlich gibt es dazu ein gewisses „Aber“: Ohne Zweifel sind Anwält/innen Dienstleister/innen und umso erfolgreicher, je mehr ihre Mandanten darauf vertrauen, dass sie jederzeit gut erreichbar sind und Antworten stets zügig und innerhalb der versprochenen Deadline liefern. Es gibt daher einige Grundvoraussetzungen, die bei der Entscheidung für den Anwaltsberuf und die Großkanzlei dazugehören, unabhängig davon, ob eine Anwältin oder ein Anwalt in Voll- oder Teilzeit tätig ist. Diese Grundvoraussetzungen werde ich nachfolgend in einem ersten Teil darstellen und dazu schildern, welche Angebote es Anwältinnen und Anwälten in Teilzeit bei Noerr ermöglichen, diese Grundvoraussetzungen herzustellen. Im zweiten Teil möchte ich die Vorteile der Teilzeittätigkeit in einer Großkanzlei darstellen. Sie werden vielleicht überrascht sein, wie attraktiv diese Tätigkeit im Vergleich zu einer – vermeintlich teilzeitfreundlicheren – Tätigkeit in der Justiz oder anderen Behörden ist.
Zunächst also zu den Grundvoraussetzungen
Die wichtigste Grundvoraussetzung neben hoher fachlicher Kompetenz ist in einer Großkanzlei sicherlich die Einsatzbereitschaft. Wie gesagt möchte der Mandant richtig beraten werden und gleichzeitig zuverlässig innerhalb der vereinbarten, teils kurzen Frist. Dabei arbeiten wir fast ausschließlich an Mandaten, die für unsere Mandanten von höchster Wichtigkeit und oft von großer Dringlichkeit sind. Zudem sind komplexe rechtliche Fragen zu beantworten, oft umfangreiche Unterlagen zu sichten und teilweise Großverfahren mit fachbereichs- und standortübergreifenden Teams zu stemmen. Die Tätigkeit jeder Anwältin und jedes Anwalts, die an dem Mandat mitarbeiten, ist wesentlich für den Erfolg. Um das Mandat zum Erfolg zu führen, ist daher auch von allen beteiligten Anwältinnen und Anwälten stets eine hohe Einsatzbereitschaft erforderlich. Wie soll das mit Teilzeit vereinbar sein, fragen Sie sich? Vor allem durch zeitliche Flexibilität und Eigenverantwortung ist meine Erfahrung. Nicht jeder Tag oder jede Woche eines Anwaltes verläuft planbar in gleichen Bahnen, dies gilt in Teilzeit wie in Vollzeit. Während eine Anwältin oder ein Anwalt in Vollzeit in Stoßzeiten Aufgaben über den Tag bzw. die Woche anders verteilen oder einschieben kann, bedeutet dies für mich in Teilzeit möglicherweise, dass ich meinen „Businessplan“ für die Woche anpasse und einen „freien“ Nachmittag verschiebe. In den allermeisten Fällen ist dies mit einigen Tagen Vorlauf planbar, wenn etwa ein Gerichtstermin ansteht, der auf den geplanten „freien“ Tag fällt oder ich an einer interessanten Konferenz teilnehmen will. Aber auch wenn ein Mandant innerhalb der nächsten Tage eine dringende rechtliche Prüfung benötigt, kann ich mit dem Team meinen notwendigen Einsatz über die folgenden Tage planen. Im besten Fall lassen sich dann „freie“ Tage bzw. Nachmittage von vorneherein einplanen. Wenn aber nicht, ist Flexibilität gefragt.
Diese zeitliche Flexibilität setzt einiges voraus: nicht nur flexible Kollegen bzw. eine flexible Kanzlei, wie es Noerr ist, sondern auch einen flexiblen Lebenspartner und, für das Projekt Familie, flexible Betreuungsmöglichkeiten. Die erforderliche Flexibilität der Kanzlei erfüllt Noerr schon seit Jahren mit individuell angepassten Teilzeitmodellen, die auch tatsächlich gelebt werden. Für flexible Betreuungsmöglichkeiten ist es natürlich ein Segen, wenn auch der Vater flexibel sein kann oder die Oma gerne – auch mal kurzfristig – mit den Kindern Zeit verbringt. In gleicher Weise unterstützen aber auch Kinderfrauen (und Kindermänner, wie ich ihn zwei Jahre lang hatte), deren Bezahlung bei einem Großkanzleigehalt auch in Teilzeit grundsätzlich kein Problem darstellen sollte. Bei der Suche nach einer geeigneten Kraft (auch für die Pflege der Eltern oder für den Haushalt) unterstützt Noerr im Rahmen des Programms Noerr Family durch die Zusammenarbeit mit der Agentur pme Familienservice, die nach meinen Erfahrungen den besten Service in diesem Bereich bietet und nur für Unternehmen tätig wird.
Unbedingt: delegieren können!
Bei all dem ist es für den Anwalt und die Anwältin in Teilzeit hilfreich, wenn man zwei Dinge kann oder mit der Zeit erlernt: zu delegieren (und bis zu einem gewissen Grad auch wirklich loszulassen) und kein schlechtes Gewissen zu haben (weil man sowohl für die Kanzlei als auch für das andere Projekt sein Bestes gibt, aber nie an zwei Stellen gleichzeitig sein kann). Wer weiß, dass ihm das eine oder andere nicht leicht fällt, sollte sich keinesfalls gegen eine Tätigkeit in Teilzeit entscheiden oder den Plan Großkanzlei gleich von vorneherein aufgeben. Es ist viel hilfreicher – und Sie dürfen es sich durchaus zutrauen –, an den Herausforderungen zu wachsen, wenn sie sich stellen. Und erfreulicherweise gibt es ja inzwischen immer mehr Vorbilder, die Sie auf diesem Weg beraten, begleiten und coachen können.
Wie gesagt möchte ich zudem noch auf die Vorteile der Teilzeittätigkeit in einer Großkanzlei zu sprechen kommen. Da sind zum einen ganz allgemein die inhaltlich spannenden und juristisch fordernden Fälle, an denen wir arbeiten. Ob internationales Schiedsverfahren für ein kalifornisches Unternehmen im Bereich des Vertriebsrechts, ob Verteidigung eines brasilianischen Unternehmens vor deutschen Gerichten gegen vermeintliche vertragliche Ansprüche mit teilweiser Anwendbarkeit brasilianischen Rechts oder Schadensersatzklage im Millionenbereich gegen mehrere Kartellteilnehmer mit der Argumentation, dass diese aufgrund des Kartells überhöhte Preise verlangt haben – die Vielfalt der tatsächlichen, rechtlichen und prozessualen Situationen ist so groß, dass es nie langweilig wird. Gleichzeitig ermöglicht die Großkanzlei eine weitgehende Spezialisierung, etwa auf die Bereiche Litigation, Corporate oder Energierecht, die wiederum ein Arbeiten auf höherem Niveau und an spannenderen Fällen mit sich bringt. Da ist es dann auch ein Leichtes, mit Leidenschaft bei der Sache zu sein, selbst wenn abends spät noch eine rechtliche Prüfung oder ein Schriftsatz anstehen. Die Spezialisierung kann auch durch Veröffentlichungen, Vorträge und Vernetzung in entsprechenden Branchen weitergeführt werden, je nachdem, wo Ihre Neigungen liegen. Die Großkanzlei kann Sie dabei durch die Mitarbeiter des Business Developments und durch stets vorhandene wissensdurstige wissenschaftliche Mitarbeiter unterstützen.
Der besondere Pluspunkt von Großkanzleien
Zum anderen ist gerade eine Tätigkeit natürlich umso einfacher und leichter organisierbar, je größer die Möglichkeit ist, Aufgaben an Assistentinnen, Support-Mitarbeiter (zum Beispiel des erwähnten Business Developments oder des Document Centers), an wissenschaftliche Mitarbeiter oder mit der Zeit immer mehr auch an Kolleg/innen im Team zu delegieren. Diese Möglichkeit ist in Großkanzleien natürlich ausgeprägter als in kleineren Einheiten bis hin zum Einzelkämpfer. Und schließlich macht es einfach mehr Spaß, in einem Team von interessanten Kollegen zu arbeiten, die alle mit ihren unterschiedlichen Hintergründen, Erfahrungen, Erlebnissen und Ansichten auch das eigene Leben bereichern.
Ich kann also nur dazu raten, es anzugehen und nicht angesichts der eingangs genannten Fragen von vornherein vor den sicherlich nicht ganz kleinen Herausforderungen einer Tätigkeit in der Großkanzlei, noch dazu in Teilzeit zurückzuschrecken. Hilfreich ist für mich dabei immer wieder der folgende Satz des US-Ökonomen Peter Drucker: “We greatly overestimate what we can do in one year. But we greatly underestimate what is possible for us in five years.”